Südtirol hat vor Kurzem eine erste wissenschaftliche Studie zur Tödlichkeit der Covid Pandemie in den Monaten März und April 2020 veröffentlicht. Seniorautor der Studie ist niemand Geringerer als Florian Zerzer, Generaldirektor des Südtiroler Gesundheitsbetriebes. Ihm zufolge ergab der Vergleich der Todesfälle im März-April 2015-2018 mit dem gleichen Zeitraum im Coronajahr 2020 eine Zunahme um 56 Prozent – das ist höher als die durchschnittliche Zunahme in ganz Italien, die bei 48 Prozent lag.
Die Covid Infektion war dabei die zweithäufigste Todesursache nach Herz-Kreislauferkrankungen und vor Tumoren. Die Studie erhebt auch sehr genau die Steigerung der Todesursachen, die nicht direkt von Covid 19 verursacht werden. Herzerkrankungen haben in diesen Monaten zu 19 Prozent häufiger zum Tode geführt, andere Lungenkrankheiten zu 66 Prozent. Am massivsten sticht aber eine Vermehrung von Toten mit psychischen Krankheiten und Verhaltensstörungen ins Auge – sie starben um 129 Prozent häufiger als in den Vorjahren. Hinter diesen nüchternen Zahlen verbergen sich schwere und nicht geklärte Schicksale – gehäufte Suizide können es nicht sein, Suizide haben im ersten lockdown in Südtirol sogar abgenommen.
Geht es also um psychisch schwer Kranke, die die Regeln der Behandlung von Begleitkrankheiten in ihrer Kraftlosigkeit und Isolation nicht richtig befolgt haben? Um Kranke mit Gedächtnisschwäche und Konzentrationsschwierigkeiten, die riskantes Verhalten zeigen? Um Menschen mit verminderter Durchsetzungsfähigkeit und vielen Ängsten, die in einem Gesundheitssystem, das von Corona hypnotisiert und durch Corona paralysiert ist, verlorengehen?.
Timon Gärtner, der Direktor von ASTAT hat soeben eine Zunahme der Sterblichkeit in Südtirol um 22 Prozent für das Jahr 2020 errechnet, das sind 1000 Tote mehr als erwartet. Es muss angenommen werden, dass abgesehen von den Coronatoten selbst die psychisch Kranken die schlechtesten Karten hatten. Laut Zerzer-Studie verstarben allein 67 von ihnen in den beiden Lockdown-Monaten März und April 2020.
Und über das Sterben hinaus geht es um Lebensqualität. Die Krankheit, die der Menschheit am meisten gesunde Lebensjahre raubt, heißt Depression.
In Italien hat die Nationale Psychologenkammer bereits im Frühjahr 2020 eine Studie in Auftrag gegeben, die schwere psychische Folgeschäden der Coronakrise erhebt: 72% aller Italiener leiden markant unter der Krise, am stärksten Frauen zwischen 35 und 55. Depressionen, die vorher zu 6,9% vorkamen, sind in Italien auf 18% angestiegen und schlagartig die bedeutsamste Störung nach Covid geworden. 22% der Italiener klagen über große Reizbarkeit, 14% beschreiben Partner- und Familienkonflikte, 10% Essstörungen.
Enrico Zanalda, Präsident der italienischen Gesellschaft für Psychiatrie, wird nicht müde, zu schildern, wie rasch die psychiatrischen Dienste ihre Tätigkeit auf das Telefon, Skype, whatsapp und Internet verlagert haben, um psychisch Kranken trotz mangelnder persönlicher Kontakte beizustehen. Aber der Verbrauch von Beruhigungsmitteln hat dennoch deutlich zugenommen. Psychisch Kranke, erklärt er, sind auch aufgrund ihrer Rauchgewohnheiten stärker gefährdet, schwer an Covid oder an anderen Infekten zu erkranken und zu sterben.
Die Universitäten Krems und Gent haben mehr als 1.000 Bürger Österreichs in der Coronakrise befragt, und festgestellt, dass Depressionen, die vor Corona 4 Prozent der Befragten betrafen, um das Fünffache auf 20 Prozent gestiegen sind. Angststörungen stiegen von 5 auf 19 Prozent, Schlafstörungen von 7 auf 16 Prozent. Die Altersgruppe mit den meisten psychischen Störungen durch Covid sind in Österreich jüngere Frauen unter 35, Singles stärker als Verheiratete, Arbeitslose mehr als Berufstätige. Menschen über 65 gehen gelassener mit dem Thema mögliches Sterben um, auch haben sie meist keine beruflichen Existenzsorgen mehr.
Eine bahnbrechende Studie von ASTAT, Institut für Allgemeinmedizin und Sanitätsbetrieb hat im Frühjahr 800 Südtiroler serologisch und psychologisch getestet. Studienleiter Dr. Roland Keim wird genauso wenig müde zu erklären, dass 30 Betroffene Corona-positiv waren, und 10 von ihnen eindeutig depressiv, also 33 Prozent. Von den 770 Covid-Negativen aber waren weniger als 10 Prozent depressiv. Warum sind bei serologisch Positiven Depressionen mehr als dreimal häufiger? Ist es das Virus selbst, das ins Gehirn dringt? Oder die Angst der Betroffenen vor der Krankheit, der Quarantäne und möglicherweise intensiven medizinischen Maßnahmen? Oder sind umgekehrt depressive Menschen weniger resistent gegen das Virus und erkranken leichter?
Professor Ulrich Hegerl koordiniert seit 18 Jahren ein europaweites Netzwerk gegen Depression. Der Präsident der European Alliance Against Depession mit Sitz in Leipzig erklärte den Autoren vor wenigen Tagen: „Depression ist aktuell die zweitwichtigste Krankheit weltweit und wird 2030 die wichtigste sein. In Südtirol habt ihr, wenn ihr die 800 Getesteten nachuntersucht, die einmalige Chance, zu klären, wie Depression und Coronavirus zusammenhängen. Das ist für die Wissenschaft und für die Menschheit eine Riesenchance“.
Die Autoren möchten sie nutzen. Und vor allem darauf hinweisen, was im Vorfeld häufig gegen Depression hilft: 30 Minuten Ausdauersport täglich, eine Stunde früher aufstehen als üblich, und gute Strukturierung des Tages mit leicht erreichbaren Zielen. Mit viel Selbstlob, wenn die Ziele erreicht werden, und an andere verschenktem Lächeln, wenn die Maske herunten ist. Sollte der Druck aber zu groß werden, steht die website dubistnichtallein zu Verfügung, auch der Psychologische Dienst 24 Stunden ist bereit. Bei Bedarf kann man zu Bürozeiten mit verständnisvollen Psychiatern an den Zentren Psychischer Gesundheit sprechen. Den Ruck, die Hilfe zu suchen und zu beanspruchen, muss man sich allerdings meist selber geben. Man wird als Betroffener oft nicht wahrgenommen. Psychisches Leid ist weniger sichtbar als offene Platzwunden oder gebrochene Knochen.