Raika Lana

Südtirol: Tag der Depression 2020

by Radio Sonnenschein

DepressionEs scheint, als zeitigten jahrelange intensive Bemühungen Erfolg. 2004 hat die Europäische Allianz gegen Depression ihre Tätigkeit in Südtirol aufgenommen, und seitdem ein Netzwerk aus Telefonberatung, Selbsthilfe, Anlaufstellen und Fachdiensten aufgebaut, das zwei Zielen dient: Der Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten depressiv Erkrankter und der Senkung der Suizidrate. Inzwischen ist die internationale wissenschaftliche Gesellschaft European Alliance Against Depression eine weltweite Organisation mit 12 europäischen Mitgliedsstaaten, aber auch mit Chile, Kanada und Westaustralien.

Sein Hauptsitz ist in Leipzig, der Präsident ist Professor Ulrich Hegerl, der 2018 und 2019 auf dem Fachkongress „Suizid im Alpenraum – Wie überleben unsere Jugendlichen?“ als Hauptreferent klar gemacht hat, dass die Krankheit Depression der Faktor ist, der weltweit und auch in Südtirol am meisten Suizidopfer fordert. Nach Schätzungen der Weltbank und der WHO ist Depression 2020 die zweit bedeutsamste, und 2030 die allerbedeutsamste Erkrankung weltweit. Die Coronakrise dürfte diese Entwicklung längst beschleunigt haben.

Darauf ist man vorbereitet, gerade bei uns in Südtirol. Die European Alliance Against Depression hat den 1. Oktober zum Tag der Depression bestimmt.

Depression 4Im Auftrag des Landesrates für das Gesundheitswesen wird dieser Tag in Südtirol begangen, durch umfassende Information über die Medien, durch Interviews mit Experten und Betroffenen und durch Informationsstände zum Thema in den Eingangsbereichen der Hauptkrankenhäuser von Meran, Brixen und Bruneck. Dort liegen die zweisprachigen Broschüren „Depression – Was tun?“ den ganzen Tag über zum Mitnehmen auf. Denn niemand weiß, wann genau ihn oder einen Angehörigen eine schwere psychische Krise ereilt. Das Krankenhaus Bozen errichtet allerdings wegen der hohen Infektionszahl keinen Infostand.

Neueste Zahlen, die die Beobachtungsstelle für Gesundheit unter der Leitung von Dr. Carla Melani beisteuern, stimmen optimistisch. Dr. Antonio Fanolla und Dr. Sabine Weiß führen in ihrem Auftrag in Südtirol in den Jahren 2015-2020 die PASSI Studie durch, die eine repräsentative Befragung zum allgemeinen Gesundheitszustand der erwachsenen Bevölkerung darstellt und Vergleiche mit allen anderen Regionen Italiens erlaubt.

Während die WHO von 4,4 Prozent Depressiven weltweit ausgeht, erhebt die PASSI Studie für Südtirol von 2015 bis 2018 in der erwachsenen Bevölkerung von 18 bis 69 Jahren nur 3,5 Prozent, das liegt deutlich unter dem staatlichen Durchschnitt von 6 Prozent, und ist wahrscheinlich auch Frucht der 15 Jahre dauernden Aufklärung der Bevölkerung und Schulung der Fachkräfte. Der aktuelle Regionenvergleich für die Jahre 2016 bis 2019 und für Erwachsene bis 65 und Senioren ist auf der Landkarte Italiens abgebildet, und fällt sehr zu Gunsten Südtirols aus: Nur unsere Region und die Toskana liegen in beiden Altersgruppen deutlich unter dem staatlichen Durchschnitt.

DepressionAllerdings ist der Leidensdruck bei Betroffenen enorm: Depressive Menschen fühlen sich in Südtirol an 216 Tagen im Jahr seelisch leidend, an 144 Tagen mit körperlichen Beschwerden ringend und an immerhin 90 Tagen im Jahr nicht arbeitsfähig und alltagstauglich (siehe Grafik 3).

Ursachen der Depression sind, wie wir aus der Forschung wissen, ein Bündel aus erblichen Veranlagungen, unbewussten Erfahrungen aus der frühen Kindheit, der Lerngeschichte von bewusst erlebten Erfolgen und Misserfolgen und der aktuellen Belastung durch beeinträchtigende Ereignisse wie Verluste oder Konflikte. Die PASSI-Studie 2015-2018 hatte Einflussfaktoren für depressive Beschwerden erhoben, die als Auslöser wirken: in 21,4% große finanzielle Schwierigkeiten; in 7,1% Einsamkeit; in 6,3% niedriger Bildungsstand mit alleinigem Grundschulabschluss; in 6,1% Leiden an mindestens einer chronischen Krankheit; in 5,6% Arbeitslosigkeit und in 4,9% ausländische Staatsangehörigkeit.

Depression 3Allerdings zeigt PASSI D’ARGENTO, dieselbe Erhebung, die die Bevölkerung über 65 betrifft, einen deutlichen Anstieg der Depressivität in höherem Alter in unserem Land: 9,5% aller Menschen über 65 wirken depressiv, typischerweise Frauen (12,0%) doppelt so häufig wie Männer (6,3%). Der soziale und finanzielle Status scheint auch da entscheidend zu sein: Nur 7,3% der Südtiroler ohne finanzielle Sorgen, aber 28,9% der Mitbürger mit schweren Geldproblemen wirken depressiv.

Auch chronische Krankheiten machen verständlicherweise eher depressiv. Nur 6 Prozent der Senioren ohne chronische Krankheit, aber 18 Prozent der Älteren mit zwei oder mehr chronischen Krankheiten sind depressiv (Grafik 4, zweiter Abschnitt). Dieselbe Entwicklung besteht bei Erwachsenen: 2,5 Prozent von ihnen sind depressiv, ohne an einer chronischen Krankheit zu leiden, aber 22 Prozent jener, die an zwei oder mehr andauernden Krankheiten laborieren (Grafik 4, erster Abschnitt).

Dabei entsteht häufig ein Teufelskreis, den es aktiv, mit Hilfe von Psychotherapie und medikamentöser Behandlung, zu durchbrechen gilt. Ansonsten verstärkt die körperliche Krankheit das seelische Leiden und dieses die Wahrnehmung von Schmerzen und Beeinträchtigung. Diabetiker oder Menschen mit Bluthochdruck vernachlässigen leichter Diät und Bewegung, wenn sie depressiv sind. Umgekehrt kann die Depression Gelenksschmerzen bei Arthrose deutlich verstärken und Betroffene fast bewegungsunfähig machen.

Alleinlebende Senioren sind in der Studie 2015-2018 zu 13,6 Prozent depressiv, Ältere in irgendeiner Form von Wohngemeinschaft nur in 8,2 Prozent. Nicht zufällig warnt der berühmte Psychiater Manfred Spitzer in seinem neuen Bestseller vor „Einsamkeit, der unerkannten Krankheit.“

Hauptanzeichen einer Depression sind dauerhaft gedrückte Stimmung, Verlust von Freude und Interessen und Kraftlosigkeit, die mindestens 2 Wochen lang andauern. Daneben sind vor allem Schlafstörungen, Appetitmangel, Abmagerung, Konzentrationsstörungen, Grübelzwang und geringes Selbstwertgefühl Hinweise auf bestehende oder entstehende Depression.

Der Gang zum Arzt oder zum Psychologen fällt heute in Südtirol verhältnismäßig leicht, wir leben in einer aufgeklärten Gesellschaft, die auch über seelische Leiden gut Bescheid weiß und immer häufiger das Richtige tut. Vor allem aber ist das Netzwerk der Helfer und Fachleute seit Langem darauf vorbereitet, dass Menschen mit Depressionen zunehmend Hilfe suchen. Je früher wir eine Depression erkennen, desto besser können wir sie behandeln. Zeitgewinn ist da Gewinn von Lebensenergie. Die beiden Königswege der Behandlung sind Psychotherapie, also Heilen mit Worten und Verhaltensübungen, und die Verschreibung von antidepressiven Medikamenten.

Rubrik Anlaufstellen für Betroffene rund um die Uhr

Anlaufstellen für Menschen mit ausgeprägten psychischen Problemen sind rund um die Uhr die Notaufnahmen der Krankenhäuser von Bozen, Meran, Brixen und Bruneck. Hilfe findet man (an Werktagen zu Bürozeiten) bei den Zentren Psychischer Gesundheit und den Psychologischen Diensten des Sanitätsbetriebes, bei Hausärzten, privat arbeitenden Psychiatern und Psychologen. Telefon- und emailberatung gibt es bei der Telefonseelsorge der Caritas (Tel. 0471 052 052, online www.telefonseelsorge-online.bz.it); Young+Direct (04711551551, Whats-App 345 0817 056, online@young-direct.it ) und telefono amico (02 23272327).

Rubrik Antidepressive Medikamente – Fluch oder Segen?

Antidepressiva machen nicht süchtig. Sie verändern den Gehirnstoffwechsel nicht wie Drogen oder Genussgifte (Nikotin) im Verlauf von Sekunden bis Minuten nach Einnahme, sondern beeinflussen ihn nachhaltig durch günstige Veränderungen des Gehirns mit vermehrter Aktivität der Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin, je nach Substanz auch Dopamin, die erst nach ca 3 Wochen auftreten. Die Langsamkeit der Wirkung stellt einen Schutz vor dem Suchterlebnis plötzlichen Wohlbefindens dar. Deshalb werden Schlaf anstoßende Antidepressiva gerne auch bei Patienten mit Schlafstörungen verwendet, die ansonsten zu Schlaf- und Beruhigungsmitteln, so genannten Benzodiazepinen, greifen würden. Die Benzodiazepine besitzen nämlich dasselbe Suchtpotential wie Alkohol, machen 5% ihrer Benutzer süchtig, führen oft zur Gewöhnung und sind die weltweit am häufigsten verschriebenen Medikamente.

Da die Depression eine schwere Krankheit darstellen kann, die zu selten erkannt und auch selten korrekt behandelt wird, ist die zunehmende Verschreibung von Antidepressiva eigentlich zu begrüßen und stellt eine hilfreiche Beeinflussung der Volksgesundheit dar (Die Verwendung von Beruhigungs- und Schlafmitteln hingegen ist einzuschränken). Antidepressiva sind hilfreich, weil sie auch bei Angststörungen, psychosomatischen Beschwerden, Schmerzen und Schlafstörungen eingesetzt werden können, ohne Suchtpotential zu entfalten.

Allerdings kann das plötzliche Weglassen von Antidepressiva bei einigen Patienten zu so genannten Absetzphänomenen führen, das sind Unruhe, Schlaflosigkeit, Übelkeit und Schweißausbrüche. Deshalb ist ein auf den Einzelnen zugeschnittener Umgang mit diesen Medikamenten und langsames Senken der Dosis angezeigt.

Rubrik: Netzwerk psychischer Gesundheit im Sanitätsbetrieb

Im Frühjahr 2018 wurde das Netzwerk psychischer Gesundheit als höchstes Fachgremium der Psychiatrie und Psychologie im Land von LR Martha Stocker eingesetzt und 2019 von LR Thomas Widmann weiter beauftragt. Es setzt sich aus den Leitern aller Psychiatrischen Dienste, Psychologischen Dienste, Dienste für Abhängigkeitserkrankungen, der Kinderpsychiatrie und des Therapiezentrums Bad Bachgart zusammen und wählt alle 2 Jahre aus seinen Reihen je einen Psychologen und Arzt als Koordinator. Das Netzwerk beschäftigt sich mit den brennendsten und wichtigsten Fragen der psychischen Gesundheit im Land, wirkt beratend auf die Politik ein und fühlt sich dafür zuständig, dem Bürger die Nutzung der Gesundheitsangebote im psychischen Bereich zu erleichtern. Kurze Wege für rasche Heilung, lautet die Devise. Das Netzwerk hat im Bereich des Autismus und der Kinderpsychiatrie genauso neue Vorgangsweisen erarbeitet, wie zur Betreuung von Menschen mit Essstörungen und von verhaltensauffälligen Flüchtlingen.

In der Coronakrise hat es die Notfallpsychologie aktiviert und das Hilfsnetzwerk PSYHELP Covid 19 ins Leben gerufen, an dem sich 15 Dienste des öffentlichen Gesundheitswesens und 20 private Vereinigungen beteiligen. Eine Einsatzleitung von 6 Fachpersonen koordiniert PSYHELP, damit der heiße Herbst mit seinen psychosozialen Folgen möglichst gut bewältigt wird, und hält Verbindungen zur medizinischen und zur sozialen Task force. Das Thema Depression geht die Fachgruppe in Zukunft aktiv an, indem sie sich mit Fr. Dr. Carla Melani von der Beobachtungsstelle für Gesundheit regelmäßig berät, um Prävention gezielter auch nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, z. B der PASSI-Studie, auszurichten.

Roger Pycha (Koordinator des Netzwerks Psychischer Gesundheit im Südtiroler Gesundheitsbetrieb und des Netzwerks Psyhelp Covid 19) und Sabine Cagol (Präsidentin der Psychologenkammer und Koordinatorin von EAAD)

 

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